Inzwischen fühle ich mich schon ein wenig heimisch hier, kenne mich aus in der Altstadt, weiß, wo ich am günstigsten einkaufen und Mittagessen kann, wo das nächste Internet-Café ist, wo die angenehmsten Kaffees liegen – und Prag hat wunderbare alte Kaffees im Wiener Stil wie z.B. das Kaffee Louvre, das Kaffee Slavia oder das Kaffee in der Laterne-Passage, wo man auch gut lesen und schreiben kann. Des öfteren verlasse ich jetzt die Hauptstraßen und Boulevards, die den Touristen gehören, und flaniere durch die kleineren Gassen in die alten Innenhöfe hinein, wo sich oft pittoreske Imbissstuben und Weinkeller, kleine Galerien und Antiquariate eingenistet haben.
Mo, 10.11.08
Besuch der Sauna in der Na Poříčí 12. Auf der Suche nach dem Schwimmbad – ich folge einfach den lauten Stimmen — quere ich, mit umgebundenem Handtuch, mehrere Schwingtüren, von der Herren-Umkleide durch die Duschräume, und stehe plötzlich am Beckenrad der sehr langen, dafür schmalen Schwimmhalle: Zu beiden Seiten des Beckens hängen im Abstand eines Meters junge Frauen im Wasser, mit den Armen sich am Beckenrand stützend, und vollführen nach dem strengen Kommando ihrer Trainerin gymnastische Unterwasser-Übungen, was sehr kurios aussieht. Das unstatthafte Erscheinen eines männlichen Wesens in der Schwimmhalle löst allenthalben erstaunte Blicke, Getuschle und Gekicher aus — verlegen trete ich den Rückzug an und verziehe mich in die Sauna. Hier sind nur Männer, wie ich erstaunt registriere — ist gemischte Sauna in Tschechien etwa verpönt? Keineswegs, denn nach einer halben Stunde betreten die ersten Frauen die Sauna, ihre Brüste und ihre Scham mit einem weißen Badetuch bedeckend. Was bleibt mir anderes übrig– der Voyerismus gehört nun mal zu meinem Beruf –, als mich auf die Füße der jungen Schönen zu konzentrieren! Ich weiss nicht, ob mein (erster) Eindruck täuscht: Aber vier von fünfen hier sind nicht nur ziemlich groß und schlank, sie haben auch enorm große Füsse. Mindestens Schuhgrösse 44. Vielleicht täuscht mein Eindruck aber auch, weil die meisten Tschechinnen hier in Stiefeln, hochhackigen Schuhen oder High Heels gehen. Jedenfalls wundere ich mich immer wieder bei meinen Touren, wie problemlos sie mit ihren Pfennigabsätzen das alte Pflaster der Prager Gassen meistern, ohne in den Zentimeter breiten Ritzen stecken zu bleiben und aus den Schuhen zu fahren.
Nach der Sauna — es ist ungefähr 21.00 — flaniere ich durch das Palladium, einem erst vor einem Jahr fertig gestellten Shopping-Center am Náměsti Republiky. Es ist ein „Konsumtempel“ mit 200 shops, wie ich ihn noch nie gesehen habe, vergleichbar allenfalls den Arkaden am Potsdamer Platz in Berlin-Mitte oder dem Kaufhaus Blumendale in New York, nur noch perfekter und extravaganter, was Architektur, Design und Lichtregie angeht. Der fünf Stockwerke und Galerien umfassende Glaspalast, der wohl den Umfang zweier Fußballfelder hat, ist so gestaltet, dass man von jeder Ebene aus alle anderen Ebenen und Galerien komplett einsehen kann, denn es gibt keine die Sicht verhüllenden Zwischenetagen, diese sind vielmehr als offene Galerien rund um einen zentralen gläsernen Kubus angelegt, der gleichsam den Nukleus des Ganzen bildet. Selbstredend sind alle Weltkonzerne und –Marken im Bereich Mode, Textilien, Parfümerie, Juwelen, Sport, Tourismus etc. hier vertreten. Man schreitet über marmorglatte Bodenfliesen, die kein Stäubchen trübt, man gleitet über lautlose Rolltreppen von einer Etage in die nächste, wobei die Rolltreppe zur letzten Ebene unterhalb der Kuppel durch einen Schacht aus mattem Acryl-Glas führt, der im Sekundenwechsel alle Farbtöne von Rosa bis Blau annimmt. Hier oben flaniert man durch wechselnde gastronomische Panoramen, durch ein Elysee aus Bars, Cafés, Imbiss-Stuben und Restaurants. Jede Lounge, jede Bar, jedes Restaurant hat sein eigenes Dekor und Design, je nachdem, ob hier japanische, koreanische, französische oder arabische Küche und Getränke serviert werden.
Nur das Absurde ist: Ich flaniere um diese Zeit fast allein durch die menschenleeren Floors, die meisten Bars, Restaurants und Shops sind zwar noch geöffnet, aber völlig verlassen, nur hier und dort sehe ich einen Verkäufer oder eine Inhaberin mit dem Besen ein paar unsichtbare Flusen von dem marmorierten Boden fegen oder mit dem Handstaubsauber zwischen den Auslagen eines Juwelierladens hin-und herwedeln. Ich gleite durch diesen mit den teuersten Materialien ausgestatteten, perfekt designten postmodernen Konsumtempel, der bestimmt Hunderte Millionen Euro gekostet hat — und er ist wie ausgestorben! Wozu die langen Öffnungszeiten, frage ich mich, wenn nach 20 Uhr doch keine Kundschaft mehr kommt? Und nach einem Blick auf die stattlichen Preise der Auslagen: Wer kann sich diese Preise überhaupt leisten — außer einer gut betuchten Minderheit? Oder sind es die Touristenströme, die dafür sorgen, dass die hier versammelten 200 Luxus-Shops auch genügend Umsatz machen? Was aber, wenn diese wieder einmal dünner werden sollten?
In der Prager Zeitung lese ich, dass auch die tschechische Auto-Industrie und ihre Zulieferer von der Weltfinanzkrise hart getroffen werden, dass auch Skoda seine Produktion zurückfahren muss, weil der Absatz auf den EU-Märkten gefährdet ist. Man darf gespannt sein, wie viele der 200 Shops im Palladium sich in den nächsten Jahren werden halten können. Vielleicht hat man auch hier, im Zentrum Prags, nur eine Art Finanzblase aus Glas gebaut, die bald platzen wird!
Di, 11.11.08
Mittagessen mit Lucie in einem kleinen Selbstbedienungs-Restaurant am Ende der Rytířská. Lucie fragte mich nach meinen ersten Eindrücken von Prag. Dass die Moldaustadt mit ihrer über 1000jährigen Geschichte und ihrer unzerstörten Stadtlandschaft ein architektonisches und kulturelles Juwel ist, das jeden Besucher fasziniert, antworte ich, bedürfe wohl keiner Erklärung. Nur was mir ein gewisses Unbehagen bereite, sei die rasche Amerikanisierung der Stadt, die ihren Charakter verändere und gar nicht zu ihrem Wesen passe. Man könne ja auch nicht Smetanas sinfonisches Werk „Die Moldau“ in eine amerikanische Soap-Opera verwandeln. Die Tschechen, sagt Lucie, hätten eben nie gelernt, ihrer eigenen Kultur zu vertrauen, immer haben sie sich, mussten sie sich, auf Grund ihrer prekären geografischen Zwischenlage, den jeweiligen Großmächten anpassen: früher an die europäischen Großmächte, an Habsburg-Österreich und Frankreich zumal, nach 1945 an die Sowjetunion, und jetzt orientiere man sich eben an den USA. Die starke Ausrichtung an den USA hat natürlich auch mit dem abrupten Systemwechsel nach der Implosion des Sowjetreiches zu tun. Bei der Reprivatisierung des Staatseigentums in den frühen Neunzigern ging es in allen postsozialistischen Ländern zu wie im Wilden Westen: Wer Geld hatte, konnte damals zu einem Spottpreis eine Fabrik, ein Grundstück oder ein Haus erwerben. Eine kleine Schicht von Russen, Polen, Tschechen etc., die damals schon Geld hatten, vor allem die Mitglieder der alten Nomenklatura, haben sich denn auch gesund gestoßen — auf Kosten der großen Mehrheit. Im übrigen gehören die Filetstücke Prags dem ausländischen Kapital, das hier – man sieht es mit bloßem Auge — sehr, sehr viel Geld investiert hat. Darum ist die Arbeitslosigkeit in Prag vergleichsweise niedrig: nur 2-3 Prozent. Außerhalb der Hauptstadt ist sie viel höher.
Da heute die Sonne scheint, entschließe ich mich zu einem Spaziergang auf den Petřín oder Laurenziberg. Ich erreiche die Kleinseite über die Brücke am Nationaltheater. In direkter Verlängerung der Vítězná, gleich neben der „Hungermauer“, sind auf den Stufen einer steilen Treppe diverse Figuren aufgestellt, die von ferne wie harmlose Fußgänger wirken, sich beim Näherkommen jedoch als gräuliche Menetekel entpuppen, als eiserne Skulpturen verkrüppelter, buchstäblich halbierter Wesen: dem einen fehlt eine Schulter, dem anderen der halbe Kopf, dem dritten der halbe Oberkörper – eine makabre Manifestation menschlicher Wracks und Ruinen. Es handelt sich, wie ich der Gedenktafel entnehme, um eine Gedenkstätte für die Opfer des kommunistischen Totalitarismus, aufgestellt von der Stadt Prag.
Ich wandere den Hügel hoch, der auf der südöstlichen Seite von einer gewaltigen, mit Zinnen bewehrten Mauer gesäumt wird, die den Petřín zweiteilt und längs des Höhenkamms verläuft. Karl IV. ließ diese Mauer, als Teil der neuen Stadtbefestigung links der Moldau anlegen. Seinen Namen erhielt sie, weil der Herrscher mit ihrem Bau angeblich den armen Leuten Lohn und Brot geben wollte, wohl eine fromme Legende. Vielleicht aber, so denke ich mir, hat die Hungermauer den Dichter Kafka, der sie von seinem zeitweiligen Domizil im Seitenflügel des Schönborn-Palais im Blick hatte, zu seiner ingeniösen Parabel: Beim Bau der chinesischen Mauer inspiriert.
Auf dem Petřín ragt der Prager Aussichtsturm ca. 60 Meter in die Höhe — eine Nachbildung und Miniaturfassung des Pariser Eifelturms, die anlässlich der großen böhmischen Industrieausstellung in Prag 1891 erbaut worden ist. Die Stadt wollte schon damals zeigen, dass sie in technischer Hinsicht mit Europas Metropolen Schritt halten kann. Bewundernswert die raffinierte Statik des sich immer mehr nach oben zu verjüngenden Turms und das komplexe Geflecht eiserner Quer- und Längsverstrebungen, die durch Stahlnieten befestigt sind. Ich klettere brav die 299 Stufen der Wendeltreppe hoch, die Hand immer am Schirm meiner Mütze, denn es ist sehr zugig hier oben. Der Gegenverkehr der absteigenden Besucher auf der schmalen Wendeltreppe bietet Anlass zu einer interessanten Beobachtung: Wer hält zuerst inne, um den anderen vorbeizulassen? Wer steigt unbeirrt weiter auf oder ab? Man kann hier ganz rasch testen, wer zu welcher psychologischen Spezies gehört: ob zu denen, die Rücksicht nehmen, oder zu denen, die Rücksicht immer erst von den anderen erwarten… Für die Mühen des Aufstiegs wird man in der Tat belohnt durch den herrlichen Rundblick über die Moldaustadt, der sich von der oberen Galerie dem Auge bietet.
Ich wandere weiter in Richtung Hradschin zum Kloster Strahov, dem zweitältesten Mönchskloster Prags, einer Gründung des Prämonstratenser-Ordens, dem das riesige Anwesen nach dem Ende der kommunistischen Ära wieder übereignet wurde. Ich betrete die Strahover Bildergalerie im ersten Stock des Kreuzganges, die Werke von der Gotik bis ins 19. Jhdt. Umfasst — und verharre staunend vor einigen großformatigen Portraits: mit welcher — geradezu fotorealistischen — Präzision die alten Meister nicht nur die üblichen Verdächtigen, sprich: die christlichen Heiligen, sondern auch gewöhnliche, und vor allem alte Menschen ihrer Epoche portraitiert haben.
Der Besuch der berühmten Strahov’schen Bibliothek mit dem Theologischen und dem Philosophischen Saal, die 280 000 Bände und über 5000 Handschriften enthalten, stimmt mich fast ein wenig melancholisch, liegt doch im schieren Anblick dieser ehrwürdigen Zeugnisse einer längst vergangenen Frömmigkeit und Gelehrsamkeit ein Memento mori. Wie viel geronnener Schweiß, wie viel geistige und physische Energie steckt doch in diesen Regalkilometern von Büchern und Folianten, die bis unter die Saaldecke gestapelt sind – der größte Teil liegt noch in den Archiven — und die doch kein Mensch mehr (ein paar Spezialisten ausgenommen) mehr kennt, geschweige denn liest! Die hier gestapelten Bücher mit ihren vergilbten wachsweißen Leinen- oder braunen Ledereinbänden wirken auf mich wie einbalsamierte Buchleichen — und unwillkürlich denke ich an mein eigenes literarisches, dramatisches und essayistisches Werk, das auch mehrere Regalmeter umfassen dürfte und wohl ebenso dem Vergessen anheim fallen wird (und teilweise schon ist) wie die Werke der Kollegen aus fernen Jahrhunderten. Früher konnte man mit dem Beruf des Schriftstellers immerhin noch die Hoffnung verbinden, dass das eigene Werk einen überleben wird. Heute, im „Zeitalter der Dromokratie“ (Virilio), der rasenden Beschleunigung, muss der Autor schon froh sein, wenn sein Buch wenigstens eine Saison lang auf den Ladentischen ausliegt, und nicht schon nach drei, vier Wochen wieder verschwindet, wie es inzwischen die Regel ist.
Indes macht mich der Audio-Guide auf eine höchst originelle Erfindung aufmerksam, die im Theologischen Saal zu besichtigen ist: auf das sog. Kompilierungs-Rad – eine Konstruktion aus mehreren, übereinander geschachtelten Schreibplatten, die mit einer Walze verbunden sind und mittels eines großen Rades gedreht werden können, sodass mal die eine, mal die andere Platte nach oben bzw. nach vorne gelangt. Diese pfiffige Konstruktion benutzten die alten Kompilatoren, um aus verschiedenen Büchern, die auf jeweils verschiedenen Platten des Drehtisches abgelegt wurden, einen „neuen“ Text zu kompilieren; eine mechanische Technik des Kopierens und Einfügens lange vor dem digitalen Zeitalter!
Mi,12.11.08
Ich steige in die Metro, um einmal die Seiten Prags kennen zulernen, die nicht im Reiseführer mit Sternchen versehen sind: die Trabantenstädte am Rande der Moldaustadt. Ich nehme die Linie B und fahre bis zur Endstation Černý most: Vor mir fährt ein alter Mann die Rolltreppe hinauf, der aussieht wie ein tschechisches Rumpelstilzchen. Sein eisgrauer struppiger Bart reicht ihm bis zum Bachnabel, er trägt eine grünstichige, völlig verdreckte Jacke und zwei verschiedenfarbige Plastiksandalen ohne Strümpfe. Mit der einen Hand hält er seinen auf dem Laufband abgestellten verschnürten Pappkarton fest, der wohl sein ganzer Besitz zu sein scheint. Solche traurigen Figuren sieht man zuweilen auch in der Innenstadt, aber deutlich mehr hier draußen in den suburbs, wo selbstredend keine Touristen zu sehen sind.
Ich wandere durch die weitläufigen, ziemlich tristen, aber mit Billig-Discountern und Supermärkten recht gut bestückten Hochhaussiedlungen. Der erste Ring besteht aus neueren Bauten, wie man an den Solarzellen sieht, mit denen Teile der Dächer bestückt sind, auch sind die Fassaden teilweise in freundlichen Orange- Grün- und Brauntönen gehalten und etwas aufgelockert durch Rotunden und gewellte Balkone, die indes wegen der Kleinheit der Mietparzellen meist mit Hausrat vollgestopft sind. Der dahinter liegende Ring von Mietkasernen besteht aus trostlosen und herunter gekommenen Plattenbauten, die wohl noch aus der kommunistischen Ära stammen. Hin und wieder begegnen mir alte Männer und Frauen mit großen Handtaschen und Plastiktüten, in denen sie Flaschen und Dosen aus den Müllbehältern sammeln.
Die meisten Leute hier sind sehr schlicht und ärmlich gekleidet und gehören gewiss nicht zu denen, die sich eine Shopping-Tour am Goldenen Kreuz oder durch das „Palladium“ leisten können. Übrigens müssen immer mehr Prager Bürger die Altstadt verlassen, weil die Mietpreise hier explodieren. Vielleicht geht es ihnen bald wie den Venezianern, von denen die Mehrzahl heute auf dem Festland wohnen, weil sie die durch Spekulation hochgetriebenen Miet- und Immobilienpreise der Lagunenstadt nicht mehr bezahlen können.
Dabei ist Prag, wo die Geschäfte boomen, noch gut dran; die Arbeitslosigkeit ist hier viel niedriger als im Landesdurchschnitt, als in Nordböhmen etwa, wo keine Touristenströme die Investoren locken. Hier ist die Armut so groß, dass die nordböhmischen Grenzgebiete zu wahren Zentren der Prostitution geworden sind. Der Straßenstrich, etwa in der Gegend von Chomutov, hat solche Ausmaße angenommen, dass die Behörden und die Polizei — wie die Prager Zeitung berichtet — neuerdings via Videoüberwachung die Freier abzuschrecken suchen, die übrigens meist aus Sachsen kommen. Da mangels Jobangeboten vielen jungen Tschechinnen gar nichts anderes übrig bleibt als der Strich, sucht die Polizei ihn wenigstens „an die Stadtgrenzen abzudrängen“, denn Prostitution ist nun mal schlecht fürs Image.
Do,13.11.08
Ich besuche die Kafka-Ausstellung auf dem Kampa-Gelände am Moldauufer der Kleinseite, Nähe Karlsbrücke. Eine Skulpturen-Szene, die vor dem Museum aufgebaut ist, lässt die Besucher unwillkürlich nach ihren Kameras greifen: Zwei stilisierte Männer aus geschupptem und geriffeltem Eisen stehen sich in einem Wasserbassin gegenüber, ihre (per eingebautem Motor) beweglichen Rümpfe samt den ausschwenkbaren Penissen drehen und heben sich rhythmisch, um ihren Strahl dann in hohem Bogen ins Becken zu ergießen… Was dieses frivole Arrangement mit Kafka und seinem Werk zu tun haben soll, bleibt allerdings unerfindlich.
Die Ausstellung indes, die auch mit diversen Installationen arbeitet, bemüht sich um eine ernsthafte Annäherung an den Prager Dichter. Sie ist nicht nur mit ausführlichen und profunden Kommentaren zu seiner Vita, seinem Elternhaus, seinen wichtigsten Freunden, geistigen Weggefährten und Amouren (Felice und Milena) versehen, sie sucht den Besucher auch in die eigentümliche Welt der Kafka’schen Figuren hineinzuziehen. Die in Schwarz gehaltenen Räume, schlauchförmigen Gänge und Labyrinthe, durch die man wandert — eines ist bis zur Decke mit schwarzen Aktenschränken bestückt, deren Schubladen die Initialen und Namen von Figuren aus Kafkas Romanen und Erzählungen tragen–, suggerieren gleichsam das innere Gefängnis des Dichters und seiner Geschöpfe, die sich stets schuldig und verurteilt fühlen, ohne doch ihre Ankläger und Richter jemals zu Gesicht zu bekommen. Unter einem angestrahlten Glaskubus steht denn auch die ingeniöse Foltermaschine, die dem bäuchlings unter ihr Liegenden den Text des „Urteils“ in den Rücken stanzt — wie in der gleichnamigen Erzählung „Das Urteil“, die Kafka im Zuge einer Nacht geschrieben hat und die sein literarisches Initiationserlebnis werden sollte.
Eine Video-Animation, welche die wichtigsten Prager Schauplätze des Dichters aus alten Fotografien montiert und diese zugleich dynamisch verfremdet, indem sie unter Wasser gefilmt wurden, sodass die wellenbewegten Straßen, Häuser und Dachfirste gleichsam ineinander stürzen, suggeriert die innere Bedrohung und Beklemmung der Kafkaschen Figuren. Auch wenn Prag als Schauplatz in seinen Romanen und Erzählungen nie vorkommt, so hat ihn doch diese Stadt sehr stark geprägt. Oft fühlte er sich Prag ausgeliefert, einmal bemerkt er lapidar „Dieses Mütterchen hat Krallen“. Bezeichnend für den „ewigen Junggesellen“ Kafka („Auch Sisyphos war Junggeselle“, notiert er selbstironisch im Tagebuch) ist auch, dass er alle Umzüge seiner Familie mitgemacht hat und erst ab seinem 32. Lebensjahr sich gezwungen sah, ein eigenes Zimmer zu nehmen. Folgerichtig beginnt die Ausstellung auch mit dem zentralen Dokument des Kafka’schen Traumas: dem berühmten „Brief an den Vater“. Manchmal, so heißt es da, stelle er sich den Vater über eine Landkarte hingestreckt vor; da dieser mit seiner Größe fast die ganze Landkarte bedecke, blieben für ihn, den Sohn, nur noch wenige, sehr kleine und randständige Gebiete übrig…
Es ist erschütternd, wie sehr dieses Vater-Trauma den Dichter bis an sein Lebensende gequält und heimgesucht hat. Als er 1917 an Tuberkulose erkrankt, sieht er darin den symbolischen Ausdruck seines „Bankrottes“; dabei befindet er sich auf dem Höhepunkt seines literarischen Schaffens und längst auf dem Wege zum (Welt)Ruhm. Erschütternd auch die Selbstverurteilung in einem seiner Briefe an Doris, seine letzte Weggefährtin: „Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, und doch mit einer wilden Sehnsucht nach Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich. Für alles gibt es künstlichen, jämmerlichen Ersatz, für Vorfahren, Ehe und Nachkommen. In Krämpfen schafft man ihn und geht, wenn man nicht schon an den Krämpfen zugrunde gegangen ist, an der Trostlosigkeit des Ersatzes zugrunde.“
Dieser Schriftsteller, der die eigene Biografie und deren Traumata in einzigartiger Weise fiktionalisierte und in dessen ingeniösen literarischen Parabeln sich eine ganze Epoche, ein ganzes Jahrhundert wieder erkannte, hat bis zuletzt unter dem Stigma der Selbstverachtung gelitten.
Ich frage mich, wie der arme Franz K., der völlig unfähig zur Selbstreklame war, wohl den aufgeblasenen und durchkommerzialisierten Kultur- und Literaturbetrieb von heute erlebt hätte, in dem Talent nur noch wenig zählt, dagegen Marketing und Selbstvermarktung alles ist. Franz K. auf einer Pressekonferenz der Frankfurter Buchmesse, auf dem Blauen Sofa von 3sat oder in einem Interview mit der ZDF-Aspekte-Moderatorin — ist das vorstellbar? Ich stelle mir ihn vor, wie er mit befremdlichem Blick und einem Gefühl der Taubheit durch die Einkaufsparadiese und Konsumtempel der heutigen Boomtown Prag wandert, wie er die lautlosen Rolltreppen des „Palladiums“ hinauf und hinunter gleitet, vorbei an den perfekt designten und ausgeleuchteten Ikonen und Attrappen der modernen Warenwelt– und muss just an den „Hungerkünstler“ denken, eine seiner abgründigsten Erzählungen. Der hungert ja nicht deshalb, von den Menschen unbeachtet und vergessen, in seinem Käfig vor sich hin, weil es nichts zu essen gäbe — im Gegenteil, es ist alles reichlich vorhanden –, sondern weil er die richtige, die für ihn bestimmte Speise nicht finden kann.
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