Nach einer kurzen Lesereise nach Olomouc bin ich übers Wochenende in Berlin gewesen. Von dort fuhr ich abermals mit dem Zug nach Prag, dieses Mal kam ich in der Dämmerung an und kannte den Weg schon. Der Himmel über den Dächern hatte die Farbe von glühendem Eisen, die Wolken die von kalter Schlacke. Obwohl ich gerne länger hier bliebe, gibt es einen Anlass, schon bald zurückzukehren in die deutsche Stadt, aus der ich komme. In einem Prager Tagebuch soll sie ungenannt bleiben. Wie schon vor vier Jahren wird man mir einen Preis, für den ich dort nominiert bin, auch in diesem Jahr nicht geben. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land, heißt es und die Wahrheit dieses Sprichworts kann meine eigenen Worte zuletzt zu einer Prophezeiung erhöhen. Was ich in dieses anfangs leere Buch geschrieben habe, wäre somit Wirklichkeit geworden. Eine wunderbare Aussicht, um nicht zu sagen: eine ganz und gar phantastische!
Dass der Musikkassette eine ähnliche Wiederkunft bevorsteht wie die Schallplatte sie erfahren hat, ist unwahrscheinlich. Zumindest als primärer Tonträger hat sie nie ein vergleichbares Ansehen genossen. Kassetten waren dazu da, dass man Schallplatten oder CDs darauf überspielte, und das ist schon mal keine ideale Startvoraussetzung. Andererseits war und ist die Kassette dadurch sehr variabel und die Möglichkeit, sie zu gebrauchen, um mit schon Vorhandenem selbst etwas auszudrücken, hat sie sogar der CD voraus. Die gebrannte CD wird nie das gleiche sein können, wie das klassische Mix-Tape. Weil das auch einige digitale Menschen begriffen haben, kann man mittlerweile USB-Sticks in Kassettenhülle kaufen. Das ist dann doch eine Art Rückkehr, etwa so, als würde man dieses elektronische Tagebuch, das hier endet aber prinzipiell unendlich ist, als e-book mit einem Leinenumschlag und einem kleinen roten Lesebändchen versehen.
„Zuletzt ließen sie mich gehen. Sie hatten mich in ein Nebenzimmer gewinkt, das von klaustrophobischer Kahlheit war und an die Umkleidekammer einer Schulturnhalle erinnerte, dort wünschte ein deutlich älterer Offizier meine Papiere zu sehen. Er meinte damit nicht meinen Ausweis, sondern das Vortragsmanuskript, das ich in einer grauen Schachtel bei mir trug. Ich übergab sie ihm, er hob den Deckel ab und ließ den Blätterstoß auf den Tisch, an dem er saß, rutschen. Schweigend wandte er die Seiten um, hier und da einen Satz lesend. ‚Sie möchten in einem befreundeten Staat über Kafka sprechen‘, sagte er. ‚Halten Sie ihn für einen politischen Autor?‘ – ‚Vieles, was er schrieb, gilt als prophetisch‘, sagte ich. Dass die einzige Strategie, um ein solches Gespräch zu bestehen, darin besteht, Antworten zu geben, die bei der nächsten Frage in die eine Richtung genauso gut wie in ihr Gegenteil gedeutet werden kann, hatte ich inzwischen gelernt. ‚Soweit ich weiß, lebte Kafka in Prag, in einer Stadt, die zu den Staaten des Warschauer Pakts gehört. Sind Sie der Meinung, er habe die Wirklichkeit dort schreibend vorweg genommen?‘ – ‚In Kafkas Romanen und Erzählungen kommt Prag, die Stadt, die ihn geprägt hat, nie namentlich vor‘, sagte ich. Es war die Wahrheit. Wer auf konkrete Verweise aus ist, muss in seinen Tagebüchern suchen.
Grob wischte der Offizier, stehend jetzt, das Papier zusammen und stopfte es so in die Schachtel, dass die Blätter sich gegenseitig im Weg waren und verknickten. Eine Geste hieß mich, die Kabine zu verlassen. Im Zug, der mich Prag näher brachte, sortierte ich die Seiten neu. Aus Nachlässigkeit hatte ich sie nicht nummeriert, doch die letzte Seite fand ich als erste wieder, denn sie ist leer bis auf die Worte, mit denen ich schließen werde. Am 29. September 1911 notierte Kafka in seinem Tagebuch: ‚Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in der falschen Position.‘“