Ich wollte noch einmal zu den Arschköpfen. Schon mehrmals bin ich an den Arschköpfen vorbei gelaufen und habe sie ein bißchen von der Seite angeschaut, und wenn nicht so viele Touristen, die die Arschköpfe immer gern fotografieren, um mich waren, verweilte ich auch wohl ein wenig länger bei den Arschköpfen, um ihr Wesen zu ergründen. Aber so eine Wesensergründung braucht ihre Zeit, das macht man nicht mal eben im Vorbeigehen. Und so gehören die Arschköpfe eigentlich auch in eine andere Geschichte, die ich hier noch werde schreiben müssen.
Diesmal kam ich nicht bis zu den Arschköpfen, denn auf dem Weg dorthin tappte ich in meine eigene Vergangenheit. Das passiert mir öfters. Ich habe sozusagen eine Veranlagung dafür, über die ich allerdings nicht immer erfreut bin.
Auf den Moldauinseln wurden Vorbereitungen für ein mehrtägiges Musikfestival getroffen. Das hatte ich, als ich zu den Arschköpfen aufgebrochen war, ganz vergessen. Nun geriet ich in allerhand Betriebsamkeit. Eigentlich habe ich es immer gern, anderen Leuten beim Arbeiten zuzusehen, doch es kam mir plötzlich ein bekannter Geruch in die Nase. Ich mochte den Geruch nicht und ich konnte ihn sofort identifizieren. Es roch nach Zeltbahnen, die man frisch entrollt hatte.
Warum sind frisch entrollte Zeltbahnen schlimm? Eigentlich sind sie neutral, wie jedes Ding.
Ihr Geruch steht jedoch für mich als Zeichen von Gruppenzwang, vormilitärischem Erziehungswahn und einer Einsamkeit, die sich nur inmitten Vieler wirklich ausprägen kann. Das hört sich nun an, als sei mir in meiner Kindheit etwas schlimmes zugestoßen. Im Prinzip nicht, ich musste nur Schwimmen lernen. Und da ich aus dem Osten komme, wurde ich zu diesem Zweck in den Sommerferien, das heißt während einer oder zwei Wochen, in ein sogenanntes Schwimmlager geschickt. Das Schwimmlager war kein Ferienlager. Ferienlager mochte ich. Zweimal bin ich im Betriebsferienlager der IFA in Lychen gewesen, ca. 80 km nördlich von Berlin. Sandboden, Kiefern und übersichtliche Seen. Ich konnte mich nicht beklagen.
Anders das Schwimmlager. Das wurde im Fraureuther Waldbad veranstaltet. Wer sich nun für die geographische Lage Fraureuths interessiert, der nehme einen Atlas zur Hand; es wurde in dem kleinen Ort ein im Deutschen Reich (da kann ich nichts dafür) recht beliebtes Porzellan hergestellt, was mich noch heute verblüfft, da es dort nur zwei richtige Straßen gibt und ein paar davon abgehende Wege. Was für einen Anblick der Flecken damals geboten haben muss, möchte ich mir gar nicht vorstellen.
Aber zurück zum Schwimmen. Das Fraureuther Waldbad nannte sich Waldbad, weil ein paar Nadelbäume drum herum standen. Außerdem war das Schwimmbecken nicht mit heutigen Standards zu vergleichen. Eine rechteckige Grube war hier ausgehoben worden, deren Grund mit Steinplatten, wie sie auch vielerorts in Innenstädten und auf Bürgersteigen Verwendung fanden, fixiert wurde. Keine sehr stabile Konstruktion, und man musste aufpassen, dass man sich nicht, wo das Wasser noch flach genug war, die Zehen brach an einer klaffenden Fuge. Überhaupt das Wasser: Das Wasser war Schuld daran, dass das Fraureuther Waldbad so ein scheußliches Bad war. Selbst dort, wo einem das Wasser bloß bis zu den Hüften reichte, konnte man nicht bis auf den Grund sehen. Chlor war etwas für Hallenbadbesucher und sonstige Weicheier. Ich denke sogar, dass das Fraureuther Waldbad nur als Waldbad deklariert wurde, um die Betriebskosten zu sparen, die sich ergeben hätten, hätte man das Waldbad als richtiges Freibad betrieben. Mit gefließtem Becken und gechlortem Wasser. Gechlortes Wasser ist zwar auch nicht die Welt, es bietet aber den Vorteil der Klarheit. Man sieht, worin man schwimmt bzw. was einen beim Schwimmen umgibt.
Wahrscheinlich liegt es an der Art und Weise, wie ich das Schwimmen erlernt habe, dass ich heutzutage ein eher widerwilliger Schwimmer bin. Ich beherrsche zwar das Brust- und Rückenschwimmen und ein wenig auch das Kraulen, möchte aber meistens lieber nicht. Ich mochte auch damals lieber nicht, musste aber. Und zwar ins trübe undurchsichtige Wasser springen. Am Rand ging ein Schwimmlehrer, der im echten Leben mein Werkunterrichtlehrer war, mit einer Stange neben mir her. Wenn einen die Kräfte verließen, konnte man sich an der Stange festhalten, gern gesehen war das allerdings nicht. Wahrscheinlich widersprach es dem sozialistischen Weltbild, dass ein sozialistischer Schüler überhaupt das Schwimmen erst erlernen musste. Ich hielt mich oft fest. Denn ich konnte, als ich zum ersten Mal ins Wasser des Fraureuther Waldbades sprang, nicht ansatzweise schwimmen.
In den Pausen zwischen den Schwimmeinheiten dämmerte man in einem Großraumzelt auf Feldbetten vor sich hin und ging dann zum Mittagessen in ein anderes Großraumzelt, wo man an Campingtischen beisammen saß und nicht sehr redselig miteinander umging.
Kann sein, dass ich das alles falsch erinnere. Aber der Geruch, der mir am Moldauufer, an der Kleinseite, auf dem Weg zu den Arschköpfen entgegenschlug und der von eben solchen Großraumzelten herrührte, verursachte ein krampfartiges Gefühl in der Magengegend. In diesem Fall genügte mir das, um meiner Erinnerung ein gewisses Maß an Wahrheit zuzusprechen. Auf dem kürzesten Weg ging ich in meine Wohnung zurück. Ihr habt es besser, Arschköpfe, da ihr keine Nasen habt! Aber das ist, wie gesagt, eine andere Geschichte.
(So wollte ich schon immer mal enden.)